Zur Geschichte der Chirurgie und des Lazarettwesens


           

Das Lazarettwesen lässt sich sowohl im Kontext der Militärgeschichte als auch der Medizingeschichte betrachten. In der folgenden Überblicksdarstellung liegt der Fokus auf den sozio-politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen medizingeschichtlicher Entwicklungen in der Zeit um 1800 sowie deren Auswirkungen auf das militärische Sanitätswesen, in welchem der Chirurgie eine besondere Rolle zukam. Dem Text schließt sich eine Zeittabelle an, die bei all ihrem Umfang nur einen flüchtigen Eindruck über die medizingeschichtlich relevanten Ereignisse und Entwicklungen über die Epochen hinweg vermitteln kann. Einen Abschluss bildet die Auflistung weiterführender Literatur, welcher die hier aufgeführten Daten entnommen sind.


 

In den medizinischen Kenntnissen und Behandlungsmöglichkeiten um 1800 spiegeln sich die historischen Rahmenbedingungen der Industrialisierung und des mit ihr einhergehenden gesellschaftlichen Wandels wieder. Während die Ständegesellschaft sich allmählich aufzulösen begann, war die bürgerliche Gesellschaft noch nicht gefestigt, sodass sich ein Raum für gesellschaftliche und wissenschaftliche Experimente eröffnete. Im Ergebnis dieser Experimente ergaben sich neue Perspektiven auch innerhalb der medizinischen Forschung, die im Alltag allerdings noch keinen großen Niederschlag fanden und erst in der Zeit nach den Befreiungskriegen zu medizinisch relevanten Neuerungen und deren praktischer Anwendung führten. Erwähnenswert ist an dieser Stelle nicht nur das Experimentieren mit Narkose- und Betäubungsmitteln (Anästhesie und Analgesie), sondern auch der zunehmende Einfluss von Physik und Chemie auf die Physiologie als Grundlagenwissenschaft der Medizin. Die sich daraus entwickelnden neuen Leitwissenschaften und Konzepte legten den Grundstein für bedeutende Entwicklungen im Bereich der Chirurgie. Als Beispiel sei hier auf die, von dem englischen Chirurgen Josef Lister 1867 entwickelte, antiseptische Methode (Antisepsis) verwiesen, die auf Versuchen mit Karbolsäure basiert.


Ein erster Meilenstein in diese Richtung war die Entstehung der modernen klinischen Medizin im Rahmen der gesellschaftlichen Umwälzungen und der zunehmenden Messbarkeit der Lebenszeichen des Patienten. Die Französische Revolution von 1789 führte in Frankreich - speziell in Paris - zu einem Umdenken im bis dato vernachlässigten klinischen Bereich und ließ die Pariser klinische Schule zu einem Vorbild für ganz Europa werden. Zeitgleich gelang es der Chirurgie sich zu einer eigenen akademischen Disziplin zu entwickeln. Zwar wurde sie bereits seit der Renaissance als medizinisches Fach an einigen europäischen Universitäten gelehrt, doch nahm sie dort aufgrund ihrer Praxisnähe stets nur eine untergeordnete Stellung ein. Dies hing eng mit ihrer Trennung vom akademischen Bereich der Medizin im Mittelalter durch die Konzilien von Clermont (1130) und Tours (1163) zusammen. Seit dieser Zeit wurden chirurgische Kenntnisse lediglich in Form von Handwerksberufen weitergegeben, was einem Bedeutungszuwachs der Chirurgie im medizinisch-akademischen Bereich jahrhundertelang entgegenstand. Erst infolge der zunehmenden Kombination praktischer Handwerkstätigkeit - die nicht selten durch eine Ausbildung zum Militärchirurg erlernt wurde - mit einem Studium der menschlichen Anatomie, stellte sich eine Professionalisierung innerhalb der Medizin ein, die in dieser Form lange Zeit nicht gegeben war. Noch im 18. Jahrhundert, welches bereits von der Aufklärung durchdrungen war, praktizierten zahlreiche, nicht mit der Chirurgie vertraute Ärzte: viele nichtstudierte Mediziner, die sich als Akademiker ausgaben; eine ganze Reihe unausgebildeter Apotheker, Wundärzte, Baderchirurgen und Hebammen sowie eine Menge anderer Laienheilkundiger, die dennoch nicht den Bedarf an medizinischer Versorgung zu decken vermochten. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelang es dem öffentlichen Gesundheitswesen, mittels entsprechender Verordnungen, eine Revision des medizinischen Personals zu erwirken, was den eklatanten Mangel an diesem in der Bevölkerung allerdings noch verschlimmerte.


Aber nicht nur im zivilen Bereich ließ die gesundheitliche Versorgung zu wünschen übrig, auch das militärische Sanitätswesen des 18. Jahrhunderts zeigte sich in Ausstattung und Organisation als nur rudimentär entwickelt. Das Risiko für einen Soldaten aufgrund der unhygienischen Bedingungen im Lazarett zu erkranken und zu versterben, lag mit ca. 75 Prozent noch enorm hoch. Obwohl der Zusammenhang zwischen der Infektionsgefahr bei chirurgischen Eingriffen und hygienischen Maßnahmen bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts bekannt war, bemühten sich nur wenige Chirurgen um eine angemessene Sauberkeit. Erste, in dieser Periode gemachte Entdeckungen französischer und englischer Chirurgen (Claude Pouteau, John Pringle, Alexander Monro) zur Antisepsis gerieten für ein ganzes Jahrhundert in Vergessenheit. Nur langsam etablierten sich reguläre sanitäre Einrichtungen in den verschiedenen Armeen Europas. In Preußen war es zum Beispiel sogar noch bis zur Einführung des Feldlazarettreglements von 1787 verboten, während der Kampfhandlungen Verwundete zur medizinischen Versorgung vom Schlachtfeld zu transportieren.


 

Der Ausbruch der Französischen Revolution und die ihr folgenden Koalitionskriege veranlassten schließlich zunächst Frankreich und später auch andere europäische Mächte, das Sanitätswesen neu zu organisieren. Das 1794 vom jakobinischen Nationalkonvent erlassene Reglement befasste sich nicht nur mit der Gesundheitspflege der Armen, sondern regelte auch die medizinische Versorgung in den Militärspitälern der französischen Republik. Unter anderem sah es eine Verbesserung der Ausbildung der Ärzteschaft sowie des Spitalpersonals vor. Zusätzlich fanden diese reformerischen Bestrebungen Unterstützung durch talentierte und engagierte Mediziner, wie den Chirurgen Dominik Jean Larrey. Dieser entwickelte das "fliegende Feldlazarett" (le hopital ambulant), welches den Einsatz von Krankentransportwagen vorsah und eine direkte Versorgung der Soldaten vor Ort ermöglichte, zu der unter anderen Blutstillung, das Anlegen von Verbänden, aber auch Amputationen gehörten. Ähnliche Neuerungen setzten sich nach 1800 etwas zeitversetzt auch in den anderen europäischen Armeen durch.


 

Wesentlich größeren Schaden als die Kriegsverletzungen richteten jedoch Wellen längere Zeit andauernder oder auch nur vorübergehender Erkrankungen an, die sich innerhalb der Bevölkerung eines Ortes bzw. einer Gegend und damit auch unter den dort stationierten oder durchziehenden Soldaten ausbreiteten. In der Zeit von 1792 bis 1815 zählten die Armeen 4 500 000 Mann. Von diesen starben allein 2 500 000 an Krankheiten. Lediglich 150 000 fielen den direkten Auswirkungen der Kampfhandlungen zum Opfer! Neben den bereits erwähnten Wundinfektionen infolge mangelnder Hygiene, gehörten zu den in Europa und seinen kolonialen Besitzungen weitverbreitetsten Erkrankungen die Fieberkrankheiten Thyphoid (saisonal wiederkehrendes Fieber in den Lagern), Malaria (Wechselfieber, damals auch als Sumpffieber bezeichnet), und Thyphus (sogenanntes Fleckfieber, häufig in Hospitälern und Gefängnissen). Hinzu kamen Geschlechtskrankheiten wie die Syphilis; Ruhr und andere Magen-Darm-Infektionen; Lungen- und Rippenfellentzündungen; Krätze; Skorbut sowie geistige Störungen. Besonders erwähnenswert sind die Pocken als eine der lästigsten und gefährlichen Erkrankung jener Zeit. Ganze Militärkampagnen mussten aufgrund des Ausbruchs dieser Krankheit abgesagt werden. Eine der bedeutendsten medizinischen Fortschritte des 18. Jahrhunderts stellte daher die Entwicklung der Pockenimpfung dar, die zunächst allerdings nur in Frankreich und seinen abhängigen Staaten eine gesetzlich verordnete, praktische Anwendung fand.


 


Text Susanne Schimmel und Immo Tzschetzsch.

 


Text und Gestaltung Susanne Schimmel.

Literatur:

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